Narrenkind

Leseprobe


 

Erstes Kapitel


Juli 1667

Die einsetzende Dämmerung ließ das Tageslicht allmählich verblassen. Auf Geheiß des Wirtes entzündete eine der Mägde einen Holzspan am Herdfeuer und begann, die Unschlittkerzen im voll besetzten Schankraum zu entzünden. Bald tanzte das warme Licht der Flammen auf den mit fleckigen Tüchern bedeckten Tischen, und der ranzige Geruch des Kerzentalgs vermischte sich mit dem Bratendunst aus der Küche und dem blauen Tabakrauch, der wie Nebelschwaden in der Luft hing.

Peter Standish zog die blakende Kerze näher zu sich heran und entfaltete zum wiederholten Mal das Blatt Papier, das man ihm heimlich in die Reisetasche gesteckt hatte. Er hatte sie nur für kurze Zeit unbeaufsichtigt im Schankraum stehen lassen, als er den Abort aufgesucht hatte. Welcher von den Gästen, die rings um ihn herum zu Abend aßen, mochte die Gelegenheit genutzt haben, ihm die Nachricht zuzustecken? Oder war es vielleicht einer der Stallburschen oder gar eines der Schankmädchen gewesen?

Das Kerzenlicht fiel auf die eilig hingekritzelten Worte. Unmöglich auszumachen, ob sie von der Hand eines Mannes oder einer Frau stammten.

"Wenn Ihr George Holcrofts Geheimnis erfahren wollt, kommt nach Sonnenuntergang zum Waldrand hinter der Herberge. Sagt niemandem, wohin Ihr geht."

Die Botschaft trug keine Unterschrift.

Nachdenklich faltete Peter Standish das Papier zusammen und ließ es wieder in seine Hosentasche gleiten. Woher wusste der Unbekannte, dass er nach Walthamstow gekommen war, um Nachforschungen über George Holcroft anzustellen? Hatte er zufällig gehört, wie er den Wirt nach dem Weg zu Holcrofts Landsitz gefragt hatte? Dies schien ihm die einzige logische Erklärung zu sein. So weit er sich entsinnen konnte, hatten sich mehrere Leute in der Nähe befunden, als er den Wirt angesprochen hatte: verschiedene Bedienstete der Herberge, ein Händler aus London, der mit zwei Dienern unterwegs war, ein Fuhrknecht, der seine Pferde im Hof tränken ließ, ein junges Paar, das offenbar auf dem Weg zum Herrensitz seiner Familie war, eine maskierte Frau, die mit ihrer Zofe reiste, und eine Gruppe junger Männer, deren Gesichter sich Peter nicht näher angesehen hatte.

Aufmerksam ließ er den Blick durch den Schankraum gleiten. Je weiter der Abend fortschritt, desto dichter wurden die Tabakschwaden, die aus unzähligen Pfeifen quollen. Die Gäste, die noch mit ihrer Mahlzeit beschäftigt waren, mussten den Rauch ertragen. Zinnlöffel klapperten auf Zinnteller, es wurde gerülpst, gelacht, gegrölt. Weindunst überlagerte die Gerüche der Braten und Eintöpfe, bevor diese in den Mägen verschwanden, und wetteiferte mit den übelriechenden Talgkerzen und Binsenlichtern. Ihre Flammen und die Körperausdünstungen der Menschen erhitzten den Schankraum trotz seiner hohen Decke aus geschwärzten Balken. Peter Standish fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat und sein Hemd feucht an seiner Haut klebte. Er sehnte sich nach frischer Luft, entschied sich jedoch, noch eine Weile zu warten, bis es draußen völlig dunkel geworden war. Andernfalls würde der lichtscheue Briefschreiber vielleicht nicht zur angegebenen Stelle kommen.

Wer könnte es sein? Angespannt studierte er die Gesichter der anderen Gäste. Keines von ihnen war ihm bekannt. Die Nasen und Wangen einiger Zecher begannen sich zu röten, je mehr sie dem Wein zusprachen. Zwei Gäste hatten einen dritten Mann, der wie ein Landei aussah, zum Würfelspiel überredet. Vermutlich würden sie dem Unbedarften das Fell über die Ohren ziehen, sofern der Wirt ihrem Treiben kein Ende bereitete. Das Klappern des Würfelbechers mischte sich unter die Laute der Trunkenheit. Ein Mann in der Nähe des Kamins, in dem aufgrund der sommerlichen Hitze kein Feuer brannte, hatte eine Schnupftabakdose aus Horn hervorgeholt und steuerte bald darauf sein wiederholtes Niesen zum allgemeinen Trubel bei. Das junge Paar und die Frau mit der Zofe waren nicht anwesend. Vermutlich speisten sie in separaten Räumen.

Ein Schankmädchen näherte sich Peter Standishs Tisch, um ihm aus einem Zinnkrug Wein nachzuschenken, doch er schüttelte den Kopf, schob die Reste seines Hammeleintopfs von sich und stand auf. Er war froh, aus dem verräucherten Raum in den Hof der Herberge hinaustreten und frische Luft atmen zu können. Der Geruch nach Pferden und heißem Pech, den die in eisernen Halterungen steckenden Fackeln verströmten, war im Vergleich zu den Ausdünstungen im Schankraum geradezu angenehm. Aus den Stallungen war Pferdeschnauben und Hufscharren zu hören.

Zielstrebig durchquerte Peter den Innenhof und verließ ihn durch die Toreinfahrt. Hinter der Herberge erstreckte sich ein kleiner Buchenhain, in dem der Wirt offensichtlich Holz schlagen ließ. Das erste Mal, seit Peter sich entschlossen hatte, Nachforschungen über George Holcroft anzustellen, hatte er nicht mehr das Gefühl, einem Irrlicht nachzujagen. Alle hatten ihn verspottet, als er Bedenken über Holcrofts Absichten geäußert hatte: Vater, sein Bruder Joseph, ja selbst Elena, seine süße Schwester, um deren Wohl es ihm schließlich bei dieser Untersuchung ging. Selbst sie hatte seine Sorge um ihre Sicherheit belächelt. Peter bewunderte den Gleichmut und das Gottvertrauen dieses so zerbrechlich anmutenden Mädchens mit dem Engelshaar und dem rosigen Gesicht. Aufgrund des erheblichen Altersunterschieds hatten Elena und er sich nie sehr nahegestanden, aber er hatte schon immer eine Schwäche für seine kleine Schwester gehabt. War es da so unverständlich, dass er sie in guten Händen wissen wollte?

Der Lichtschein, der durch die bleigefassten Fenster der Herberge zu ihm herüberfiel, ließ gerade noch den Weg erkennen, der an dem Buchenhain entlangführte. Peter Standish folgte dem Pfad, bis er das Gebäude ein ganzes Stück hinter sich gelassen hatte, und blieb dann mit einem wachsenden Gefühl der Enttäuschung stehen. Der Briefschreiber war nirgendwo zu sehen. War er Opfer eines Scherzes geworden? Aber wer sollte ihm einen so dummen Streich spielen?

Aufmerksam sah er sich um, versuchte, die nächtliche Finsternis mit den Augen zu durchdringen. Um ihn herum war alles ruhig. Ernüchtert ging er den Weg zurück, blieb aber immer wieder stehen und ließ den Blick schweifen. Mit einem Mal fiel ihm zwischen den Baumstämmen ein Licht auf. Vielleicht wartete der Unbekannte im Schutz der Buchen, um sich vor der Neugier Uneingeweihter zu verbergen. Einen Versuch war es jedenfalls wert.

Langsam ging Peter auf den Lichtpunkt zu. Die Bäume standen nicht sehr dicht, und so reichte der blasse Schimmer, der von der Herberge zu ihm drang, gerade noch aus, um sich zurechtzufinden. Unter Peters Schuhsohlen knisterten vertrocknete Farne und die Reste des Herbstlaubs vom vergangenen Jahr. Ein Nachtvogel schrie in einem der Baumwipfel. Auf einmal begann sich der junge Mann unwohl zu fühlen. Dieses Versteckspiel war ausgesprochen merkwürdig.

Zögernd blieb er stehen und überlegte unschlüssig, was er tun sollte. Das Licht war nun klar zu erkennen. Es ging von einer Lampe aus, die an der Tür eines hölzernen Verschlages hing. In der Hütte musste vor einiger Zeit noch jemand gehaust haben, doch inzwischen schien sie verlassen und baufällig. Die Fensterläden waren geschlossen. Abgesehen von der Lampe deutete nichts darauf hin, dass sich jemand in der Nähe befand.

Peter Standish entschloss sich dennoch, weiterzugehen. Zweifellos war das Licht für ihn bestimmt. Wenn er jetzt umkehrte, würde er nie erfahren, was der Unbekannte ihm über den zwielichtigen George Holcroft mitzuteilen hatte. Beherzt trat er zur Tür des Verschlags, nahm die Lampe vom Nagel und drückte den Riegel herunter.

"Ist da jemand?", fragte der junge Mann vernehmlich, während er langsam die Tür aufschob.

Im Innern des Verschlags war es stockdunkel. Erst als er über die Schwelle trat, leuchtete im Schein der Kerzenflamme etwas auf. Verwundert hielt Peter inne. Zwei glühende Augen starrten ihn aus der Finsternis an. Dann ertönte ein Grollen, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Weg hier!, durchzuckte es ihn, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Wie angewurzelt stand er da, als sich ihm das Tier entgegenwarf. Im letzten Moment gelang es ihm, die Lähmung abzuschütteln und zur Seite zu springen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Waldboden. Die Lampe fiel ihm scheppernd aus der Hand und erlosch. Mit wild schlagendem Herzen rappelte sich Peter auf und wirbelte herum.

Wie eine Kanonenkugel war das Tier aus der Hütte gestürmt und stand ihm nun mit gesträubtem Fell gegenüber. Es war ein großer, schwarzer Hund, der ihn knurrend und zähnefletschend anstarrte. Von seinen langen, weiß leuchtenden Fängen tropfte der Geifer.

Eine Falle!, dachte er. Man hatte ihm eine Falle gestellt.

Als Peter eine leichte Bewegung machte, begann der Hund wie rasend zu bellen. Der Körper des Tieres zitterte in höchster Erregung, und an seinen Lefzen bildete sich weißer Schaum. Kopflos wandte sich Peter zur Flucht. Dabei stieß er mit dem Fuß gegen eine Wurzel und stürzte ... Es gelang ihm gerade noch, sich herumzuwerfen, da war der Hund bereits über ihm. Schreiend riss der junge Mann die Arme hoch, um Gesicht und Hals zu schützen. Ein furchtbarer Schmerz durchfuhr seinen rechten Unterarm, als die Fänge des Tieres in sein Fleisch drangen. Die Kiefer schlossen sich, und die Zähne bohrten sich bis auf die Knochen. Peter schrie ... rief verzweifelt um Hilfe. Mit der Linken schlug er auf den wütenden Hund ein, versuchte, ihn von sich abzuschütteln, doch die unbarmherzigen Fänge wollten nicht loslassen.

Ein Gedankenblitz durchzuckte sein gepeinigtes Hirn ... seine Pistole ... er hatte doch eine geladene Waffe dabei ... Wie von selbst tastete seine linke Hand zu seinem Gürtel, zog die Pistole, spannte mit einiger Mühe den Hahn und schoss ...

Der Hund heulte auf und sackte leblos über dem jungen Mann zusammen. Die Kugel war ihm in die Brust gedrungen. Zitternd schob Peter den Körper des toten Tieres von sich und löste seinen Arm aus den gefährlichen Fängen. Vor seinen Augen stieg eine schwarze Wand auf, sein Magen rebellierte, und er erbrach sich. Schwach wie ein Greis hockte er auf dem Waldboden, unfähig, auf die Beine zu kommen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Brechreiz nachließ und es ihm gelang, sich schwankend aufzuraffen. Sein Arm brannte wie Feuer. Als er mit der anderen Hand über die Wunde tastete, wurde er vor Schmerz beinahe ohnmächtig.

Taumelnd machte er sich schließlich auf den Rückweg, musste aber immer wieder anhalten, um seine Kräfte zu sammeln. Eine Ewigkeit - so schien es ihm - verging, bevor er den Weg wiederfand, der zur Herberge führte. Mit letzter Kraft wankte er durch die Toreinfahrt in den Hof, wo ein Stallknecht gerade einen Eimer ausschüttete. Betroffen sah der Bursche dem Mann entgegen, der mit kalkweißem Gesicht auf ihn zuschwankte.

"Sir, was ist passiert?" Er packte Peters unverletzten Arm und stützte ihn. "Ihr seid ja verwundet, Sir."

"Ein Hund ...", stammelte der junge Mann. "Ein wilder Hund ... hat mich angefallen ..."

Im Schankraum kam ihnen der Wirt entgegen.

"Das sieht bös' aus. Ich hole meine Frau. Sie soll Euch verbinden."

Als der Wirt mit seiner Gattin zurückkehrte, hatte der Stallknecht den Verletzten auf einer Bank abgesetzt. Die anwesenden Zecher wandten neugierig die Köpfe und beobachteten das Schauspiel.

"Wart Ihr etwa bei dem Holzschuppen im Wald?", fragte der Wirt erstaunt. "Einer meiner Wachhunde hat sich seit einigen Tagen so seltsam benommen, da haben wir ihn dort eingesperrt. Morgen sollte der Konstabler ihn erschießen."

"Ich fürchte, diese Pflicht musste ich ihm abnehmen", erwiderte Peter stöhnend.

"Es tut mir leid, Sir. Ich habe wohl versäumt, Euch darauf hinzuweisen, dass sich in dem Verschlag ein bissiger Hund befindet, aber ich konnte nicht ahnen, dass jemand zu so später Stunde noch in den Wald gehen würde."

"Schon gut. Ihr habt keine Schuld", meinte Peter und knirschte mit den Zähnen, während die Wirtin die Bissverletzung an seinem Arm auswusch.

"Ihr solltet möglichst bald einen Wundarzt aufsuchen, Sir."

Der junge Mann nickte nur. Ihm war noch immer übel, und als er sich erhob, zitterten seine Beine, nicht allein wegen der Schmerzen in seinem Arm, sondern auch vor Angst. Jemand hatte versucht, ihn umzubringen. Nur so war die Nachricht, die ihn zur Hütte im Wald gelockt hatte, zu erklären.


 

 
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