Die Richter des Königs

Leseprobe


 

Erstes Kapitel

Mai 1719

 

Ganz London war in Feiertagsstimmung. Menschen jeden Alters und jeden Standes strömten über Holborn und St. Giles zur Oxford Street, einem tiefen Hohlweg voller Sumpflöcher, der zu den westlichen Grafschaften führte. An der Ecke des von einer Ziegelmauer umsäumten Hyde Parks verteilte sich die fröhliche Menge auf den umliegenden Wiesen, die sich in der Ferne in der hügeligen Landschaft verloren. Obwohl es erst Anfang Mai war, wirbelten die unzähligen Kutschen, Pferde und Fußgänger eine gelbe Staubwolke auf, die wie eine Dunstglocke über dem Hohlweg lag. Noch kamen die Karossen der Adeligen und Reichen zügig voran und konnten ungehindert die mächtigen hölzernen Tribünen erreichen.

Als der Morgen vorrückte, füllten sich die Kuhweiden nördlich der Straße mehr und mehr mit Menschen. Einige Schaulustige, die gelenkig genug waren, kletterten auf die Parkmauer und richteten sich dort so bequem wie möglich ein.

Geschmeidig wie eine Katze schlängelte sich der junge Daniel Gascoyne durch die Menge. Wie die Bürger, die Handwerker, die Adeligen, die Bettler und die Gevatterinnen, die Mütter mit ihren Kindern und die Lehrknaben, denen ihre Meister an diesem Tag traditionell freigaben, war auch Daniel schon früh am Morgen die zwei Meilen von London bis Tyburn gelaufen, um das Schauspiel zu sehen, das sich etwa um die Mittagszeit vor den Augen unzähliger Gaffer zutragen würde. Da er nur ein frugales Frühstück, bestehend aus Brot und Käse, zu sich genommen hatte, erstand der junge Mann eine Pastete bei einem fahrenden Händler. Die heruntergebrannten Kerzen an dessen Handwagen verrieten, dass der Pastetenbäcker bereits seit dem Morgengrauen vor Ort sein musste. Daniel biss in das inzwischen kalte, trockene Gebäck und betrachtete die Menschen, die ausgelassen schwatzten, scherzten, sangen und einander Anzüglichkeiten zuriefen. Eine Frau, der ein Bursche in den Hintern gekniffen hatte, verabreichte dem Frechdachs eine schallende Ohrfeige. Eine andere trug ein schreiendes Kind auf ihrer Hüfte. Fasziniert von dem fröhlichen Treiben, bemerkte sie die Tränen nicht, die dem Kleinen unablässig über die roten Bäckchen rollten. Zwei Handwerksburschen stibitzten Orangen vom Karren einer Hausiererin und bewarfen kichernd einen Prediger mit den Schalen der frisch geschälten Früchte. Das einzige, was nicht so recht zu der ausgelassenen Jahrmarktsstimmung passen mochte, war der riesige dreibeinige Galgen auf dem Tyburn-Hügel.

Im Gegensatz zu den meisten Anwesenden betrachtete Daniel die Richtstätte mit einem leisen Schaudern. Er hatte schon des öfteren einer "Tyburn-Messe", wie man die Hinrichtungen auch nannte, beigewohnt und den armen Teufeln in die Augen geschaut, bevor der Henker sie aufknüpfte. Er hatte die Angst darin gesehen, die Panik vor dem Tod und der Hölle, die auf so manchen wartete, oder auch verzweifelten Trotz und das Bedürfnis, in den letzten Stunden des Lebens eine gute Figur zu machen. Zuweilen hatte Daniel das Gefühl gehabt, in einen Spiegel zu blicken. In diesen Zeiten konnte jeder vom rechten Weg abkommen und auf dem Schafott enden.

In dem Menschengewühl fiel Daniel eine flüchtige, kaum sichtbare Bewegung ins Auge. Der glänzende Stahl einer Uhrkette blitzte kurz auf, dann war nichts mehr zu sehen außer der leichten Drehung einer Hand, bevor der Taschendieb mit der Menge verschmolz. Ein weiterer Kandidat für den Galgenstrick!

Mit einem Mal schlug die ungeduldige Erwartung in gespannte Stille um, die kurz darauf einem lauten Jubel wich. Die Menschen drängten sich enger zusammen in dem Verlangen, einen günstigeren Platz zu ergattern. Einige der Rücksichtsloseren traten und schlugen um sich oder rammten einem Unbedarften, der ihnen im Weg stand, den Ellbogen ins Gesicht. Bald gab es die ersten blutigen Nasen und ausgeschlagenen Zähne. Als ein Kriegsveteran in geflickter Uniform und auf Krücken gehend die Frau mit dem plärrenden Kind anstieß, fiel ihr der Kleine aus den Armen. Rasch griff Daniel zu, zog den Knaben unter den trampelnden Füßen hervor, ehe er Schaden nehmen konnte, und reichte ihn der erschrockenen Mutter zurück.

Aus aller Munde ertönte nun der Ruf: "Hüte runter!" - nicht aus Respekt vor den Verurteilten, sondern damit die hinten Stehenden besser sehen konnten.

Zu Pferde führten der Stadtmarschall und der Unter-Sheriff die Prozession an, gefolgt von einem Trupp Berittener und dahinter eine Schar Konstabler, die ihre Amtsstäbe vor sich hertrugen. Dann kam ein einzelner Reiter, der in der Haltung eines Fürsten dem Karren mit den Verurteilten vorausritt. Bei seinem Anblick presste Daniel Gascoyne unwillkürlich die Lippen zusammen. Es war der Diebesfänger Jonathan Wild, der die drei Galgenvögel eigenhändig verhaftet und vor Gericht gegen sie ausgesagt hatte. Die Prozession nach Tyburn war für ihn ein Triumphzug. Als gelte das Interesse der Menge allein ihm, winkte er den Menschen mit strahlender Miene zu und rief: "Seht, in dem Wagen sitzen meine Kinder. Jubelt, Ihr Leute, auf dass sie einen leichten Tod am Galgen finden!"

In dem besagten Leiterwagen hockten die Verurteilten mit gesenkten Köpfen auf ihren Särgen. Sie fuhren rückwärts, damit sie beim Anblick des Dreibeins nicht in Panik gerieten, doch ein jeder von ihnen wusste, was ihn erwartete. Reverend Paul Lorraine, der Ordinarius des Newgate-Gefängnisses, in schwarze Soutane und kurze Lockenperücke gekleidet, versuchte vergeblich, die Verbrecher zum Psalmensingen zu ermuntern. Eine Eskorte mit Speeren Bewaffneter bildete die Nachhut.

Die Aufmerksamkeit der Menge war nun uneingeschränkt auf die Parade gerichtet. Daniels geübtes Auge registrierte so manche Geldkatze am Gürtel eines Schaulustigen, die er mit einer geschickten Bewegung unbemerkt hätte abschneiden können. Unwillkürlich begann es ihm in den Fingern zu jucken, doch er beherrschte sich. Unter Jonathan Wilds Augen einen Diebstahl zu begehen war gefährlicher Leichtsinn, der einen das Leben kosten konnte.

Als der Leiterwagen unter dem Dreibein hielt, wurde eine Brieftaube freigelassen, die dem Kerkermeister des Newgate Nachricht bringen sollte, dass die Verurteilten sicher an ihrem Bestimmungsort angekommen waren.

Nun trat der Zeremonienmeister von Tyburn vor: Richard Arnet, der Henker, gekleidet in seinen besten Rock und einen federbesetzten Hut. Sein Vorgänger William Marvell war zwei Jahre zuvor auf dem Weg zu einer Hinrichtung wegen nicht bezahlter Schulden verhaftet worden, was den Galgenvögeln das Leben rettete. Da sich auf die Schnelle kein Ersatz fand, brachte man sie ins Gefängnis zurück und deportierte sie schließlich in die amerikanischen Kolonien.

Die Verurteilten trugen bereits die Schlinge um den Hals. Der Scharfrichter musste nur noch die Stricke lösen, die man ihnen vor dem Aufbruch vom Newgate um den Leib gewunden hatte, und deren Enden mit Hilfe einer Leiter an einem der Querbalken des Dreibeins befestigen. Die Menge wurde ruhiger, man stieß einander an, um den Nachbarn zum Schweigen zu bringen, denn es war den Todgeweihten traditionell gestattet, vor ihrer Hinrichtung eine Rede zu halten. Dabei spielte es keine Rolle, worüber sie sprachen. Sie konnten sich mit ihren Untaten brüsten oder ihre Unschuld beteuern, sie durften ihre Ankläger verfluchen oder die Obrigkeit beschimpfen.

Der erste der drei, ein Taschendieb, rechtfertigte sein kurzes Leben als Langfinger mit ständiger Geldnot und einer mangelnden Kraft, der Versuchung einer leichten Beute zu widerstehen. Seine Rede war jedoch kaum zu verstehen, da er völlig betrunken war. Die Prozession hatte unterwegs immer wieder an einer Schenke Halt gemacht, wo man den Todgeweihten Gin oder Brandy ausgegeben hatte. Der zweite, ein fünfzehnjähriger Knabe, der einer Bande bei mehreren Einbrüchen geholfen hatte, indem er durch ein kleines Fenster eingestiegen war und seinen Komplizen dann die Tür geöffnet hatte, brachte vor Angst kein Wort heraus. Der dritte, ein junger Mann aus der Provinz, der in London sein Glück hatte machen wollen, erklärte mit schlichter Würde, dass er des Straßenraubs, dessen er angeklagt war, unschuldig sei. Man habe ihn fälschlicherweise beschuldigt, damit die wahren Täter unbehelligt blieben.

Der Rest seiner Rede ging im Lärm der Menge unter, die lieber grausige Einzelheiten eines Verbrechens als Unschuldsbeteuerungen hören wollte. Viele der Schaulustigen waren seit dem Morgen auf den Beinen, um die Hinrichtung zu sehen. Müdigkeit und Hunger verwandelte die Menschen in blutgierige Bestien, die ungeduldig nach dem Schauspiel verlangten, das sie hergeführt hatte. Erneut ermunterte der Ordinarius die Verurteilten zum Psalmensingen, doch die Menge begann zu schreien und zu fluchen, so dass kein Wort zu verstehen war und Lorraine seine Bemühungen aufgab. Als der Kleriker von dem Leiterwagen hinabgestiegen war, trat der Henker zu den Verurteilten und zog ihnen mit einer brüsken Bewegung, die etwas Endgültiges hatte, die weiße Mütze über das Gesicht, die man ihnen im Kerker aufgesetzt hatte. Blind und zitternd standen die drei noch einen Moment auf der Ladefläche des Karrens. Dann schwang der Scharfrichter die Peitsche, und die Pferde zogen an.

Die Menge wurde still. Aller Augen richtete sich auf die im Todeskampf zuckenden Körper, als sich die Schlingen um die Hälse der Männer zuzogen und das Blut sich in ihren Köpfen zu sammeln begann. Ein kräftiger Bursche stürzte vor und hängte sich an die Beine des Knaben, um das qualvolle Sterben zu beschleunigen.

Daniel nutzte die Ablenkung der Leute, um sich zum Galgen durchzudrängen. Ein starker Geruch nach Urin stieg ihm in die Nase, der von den Beinkleidern der Gehängten ausging. Einem Impuls folgend hängte er sich mit seinem ganzen Gewicht an die Beine des Mannes, der seine Unschuld beteuert hatte, bis sich seine Glieder nicht mehr bewegten.

Mit dem Tod der Verurteilten löste sich die Anspannung der Menge, und die Massen gerieten in Bewegung. Einige machten sich auf den Heimweg, andere hielten Ausschau nach einem fahrenden Händler, um noch schnell einen kleinen Imbiss einzunehmen. Ein Großteil jedoch blieb an seinem Platz und wartete auf den Moment, da die Hingerichteten vom Galgen abgeschnitten wurden. Dies geschah frühestens nach einer Stunde. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass die Gehängten auch wirklich tot waren. Dennoch kam es immer wieder vor, dass ein Verurteilter den Deckel seines Sarges öffnete und herauskletterte oder auf dem Seziertisch der Chirurgen wieder zu sich kam.

Der Wagen, den die Gilde der Barbiere und Wundärzte regelmäßig nach Tyburn schickte, stand schon in einiger Entfernung bereit. Dem Gesetz nach stand den Chirurgen eine festgelegte Anzahl von Gehängten für ihre Vorlesungen zu.

Eine zweite Brieftaube wurde freigelassen und machte sich auf den Weg zum Newgate-Gefängnis. Bald würde auch der Kerkermeister wissen, dass die Hinrichtung ohne Zwischenfälle verlaufen war.

Daniel hatte die Beine des Gehängten losgelassen, blieb aber an seiner Seite stehen, ohne recht zu wissen, warum. Er hatte den jungen Mann aus der Provinz nicht näher gekannt, hatte ihn nur einige Male in einer Schenke in Covent Garden gesehen. Allerdings war Daniel einer der wenigen, die wussten, dass der Bursche bei seiner Rede die Wahrheit gesagt hatte. Man hatte ihn zu Unrecht verurteilt. Aber das war nun nicht mehr wichtig.

Eine Balladenverkäuferin drängte sich durch die gaffende Menge und pries ihre Flugschriften an, auf denen die Geständnisse der Hingerichteten und der Bericht ihres verpfuschten Lebens für sechs Pence das Stück nachzulesen waren. Diese Geschichten wurden vom Ordinarius des Newgate verfasst, womit dieser sich ein stattliches Zubrot verdiente, denn besonders an den Hinrichtungstagen verkauften sich die Flugblätter wie warme Semmeln.

Doch Lorraine war nicht der einzige, dem sein Amt die Gelegenheit bot, nebenher ein gutes Geschäft zu machen. Nach jeder Hinrichtung versteigerte der Scharfrichter in einer nahegelegenen Schenke die Galgenstricke in Stücken von einem Fuß Länge. Die schaurigen Andenken brachten viel Geld ein, denn die Leute glaubten, dass der Strick, mit dem ein Mensch gehängt worden war, Heilkräfte besaß. Man setzte ihn gegen Kopfschmerzen und Anfälle ein.

Als die Toten vom Galgen geschnitten wurden, drängten Kranke und Entstellte zum Schafott und legten einige Münzen in die Hand des Henkers, damit dieser ihnen erlaubte, die Leichen zu berühren. Eine junge Frau entblößte ihre Brüste und strich mit den Fingern eines der Gehängten darüber, um ein Geschwür oder ein anderes Leiden zu heilen. Eine andere Frau brachte ihr Kind, dessen Gesicht von einem Ausschlag bedeckt war, zum Galgen und legte ihm die Hand des gehängten Knaben auf. Ein Mann behandelte auf dieselbe Weise seinen Kropf. Nach einer Weile war Arnets Geldbeutel wohlgefüllt. Als Letztes standen ihm noch die Kleider der Gehängten zu. Nachdem er die drei Leichen ausgezogen hatte, fuhr der Wagen der Chirurgengilde vor, und die Diener der Wundärzte luden eilig den Taschendieb und den Knaben auf, bevor die Menge ihnen die Beute streitig machte, denn nichts erschreckte die Menschen so sehr wie der Gedanke, nach dem Tod zerstückelt zu werden. Schließlich konnte nur ein unversehrter Körper beim Jüngsten Gericht auferstehen. Der Mann aus der Provinz wurde dagegen auf den Henkerskarren geladen. Er ging zurück ins Newgate-Gefängnis, wo seine Leiche mit Teer bestrichen wurde. Später sollte sie im Hyde Park in Ketten aufgehängt werden, wie es einem Straßenräuber zukam.

Als der Leichnam weggebracht wurde, erhaschte Daniel noch einen letzten Blick auf sein blau angelaufenes, aufgedunsenes Gesicht. Der Bursche hatte einfach Pech gehabt. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Daniel empfand tiefes Mitleid für ihn und für seine Angehörigen.

Zweites Kapitel

Gedankenverloren betrachtete Catherine Marshall, genannt Kitty, ihr Spiegelbild. Die Sprünge, die sich durch das Glas zogen, verzerrten die rechte Seite ihres blassen Gesichts und verschleierten so die Pockennarben, die sich über Schläfe und Wange zogen. Sie waren kaum zu sehen und entstellten sie nicht. Aber sie würden sie stets daran erinnern, dass sie ihrer Familie den Tod gebracht hatte. Vor vier Wochen war Kitty an den Blattern erkrankt und hatte ihre Eltern, die sie pflegten, angesteckt. Sie hatte die Krankheit überlebt, Vater und Mutter nicht. Nun hatte sie nur noch ihren Bruder Thomas, der vor Jahren nach London gegangen war. Denn nach Beendigung seiner Lehre als Kunstmöbeltischler in ihrem Heimatort Stamford, einer kleinen Stadt in Lincolnshire, hatte er keine Arbeit gefunden. Ihr Vater, der Schulmeister war, hatte gehofft, dass aus seinem Sohn einmal etwas Besseres als ein Handwerker werden würde. Doch Thomas' Stärke hatte von jeher weniger in seinem Verstand als in seinen Händen gelegen. Er war künstlerisch begabt und verstand es, ein paar unscheinbare Holzbretter in ein edles Möbelstück zu verwandeln. Als der Vater schließlich feststellte, dass Kitty die rasche Auffassungsgabe und das gute Gedächtnis ihres alten Herrn geerbt hatte, die dieser sich eigentlich bei seinem Sohn gewünscht hätte, unterrichtete Marshall stattdessen seine Tochter in Lesen und Schreiben, Rechnen und Französisch. Er wusste zwar nicht so recht, was sie als Frau im späteren Leben mit diesen Fähigkeiten anfangen sollte. Doch immerhin konnte es für eine zukünftige Ehefrau und Mutter hilfreich sein, wenn sie etwas von Buchführung verstand. Ihre Französischkenntnisse würde sie dagegen kaum anwenden können.

Bei dem Gedanken an ihren Vater, der ihre Klugheit stets mit soviel Stolz gelobt hatte, musste Kitty lächeln. Gleichzeitig traten ihr Tränen in die Augen. Ihre Zähne pressten sich in ihre Lippen, bis der Schmerz den Tränenfluss versiegen ließ. Wie durch einen Schleier betrachtete Kitty die kahlen Wände der Schlafkammer, in der sie stand. Bis auf den zerbrochenen Spiegel, den niemand haben wollte, einer Waschschüssel und einer Kanne aus Zinn war der Raum leer. Um die hohen Forderungen des Arztes zu bezahlen, hatten sie die Möbel und alles, was einen Wert besaß, verkaufen müssen. Von dem wenigen Geld, das nach der Bestattung der Eltern übrigblieb, würde Kitty zumindest einige Wochen ihren Lebensunterhalt bestreiten können.

Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Seufzend wandte sich Kitty ab und begegnete dem mitfühlenden Blick von Mistress Scroggs, der Nachbarin, die der Familie Marshall in den schweren Stunden beigestanden hatte.

"Bist du sicher, dass du nach London fahren willst, Kitty?", fragte die mütterliche Frau zweifelnd und fuhr mit den Händen abwesend über ihre Schürze. "Das Leben in einer so großen Stadt ist gefährlich für ein unerfahrenes Mädchen. Du bist doch erst siebzehn."

Mit einem gezwungenen Lächeln trat Kitty zu ihr und nahm mit einer dankbaren Geste ihre vor Sorge feuchten Hände. Die junge Frau konnte nicht leugnen, dass es ihr schwerfiel, ihre Heimat zu verlassen, und dass der Gedanke an die unsichere Zukunft sie mit Furcht erfüllte. Doch sie versuchte ihre Gefühle zu überspielen, um es Mistress Scroggs nicht noch schwerer zu machen.

"Ich bin ja nicht allein", sagte sie beschwichtigend. "Thomas wird mir helfen, eine Anstellung als Dienstmädchen zu finden."

Die Nachbarin unterdrückte ein Schluchzen. "Dein Vater hatte sich so sehr gewünscht, dich gut zu verheiraten", presste sie hervor. "Wie schmerzlich wäre es für ihn, zu wissen, dass du ein Leben als Dienstbote führen musst."

"Ein Mädchen ohne Mitgift ist nun einmal keine gute Partie", konstatierte Kitty mit einem Sarkasmus, der ihr selbst fremd war.

Ein wenig schockiert über die Offenheit des jungen Mädchens sah Mistress Scroggs sie an. Bevor sie etwas sagen konnte, fügte Kitty mit einem Lächeln hinzu: "Vielleicht gelingt es mir, ein wenig Geld zu sparen, wenn ich eine gute Stelle finde. Dann kann ich in ein paar Jahren doch noch heiraten."

Mistress Scroggs nickte erleichtert. "Ja, ganz bestimmt."

Unten in der Stube, die ebenso leer und kahl war wie die Schlafkammer, stand Kittys Reisetruhe, in dem sich ein paar Kleider, Schuhe und andere Kleinigkeiten befanden.

"Mein Sohn bringt dich mit dem Karren zur Herberge. Es ist noch genug Zeit. Der Rollwagen nach London fährt erst in einer Stunde. Gott segne dich, mein Kind."

Herzlich umarmte Mistress Scroggs das junge Mädchen, bevor sie ihren Sohn, der vor der Tür mit dem Karren wartete, hereinrief. Der junge Jack lächelte Kitty schüchtern an, während er sich den breitkrempigen Hut vom Kopf zog. Wie die meisten Burschen in der Nachbarschaft hatte er schon seit Jahren eine Schwäche für das hübsche Mädchen, das immer fröhlich war, dabei aber stets ein wenig unnahbar blieb. Die Träume der Jungen heizte dies nur noch mehr an. Dass Kitty gebildet war und Französisch sprach wie die feinen Leute, flößte ihnen zudem großen Respekt vor ihr ein.

"Jack, nimm Kittys Koffer und lade ihn auf den Wagen", wies Mistress Scroggs ihren Sohn an, der mit dem Hut in der Hand das junge Mädchen bewundernd anstarrte.

"Ja, Mutter", antwortete der Bursche, der sich nur mit Mühe auf seine Pflichten besann.

Erneut tief in Gedanken versunken, folgte Kitty ihm ins Freie. Sie hatte seine begehrlichen Blicke kaum bemerkt.

Mit einer letzten Umarmung verabschiedete sich die junge Frau von Mistress Scroggs und stieg neben Jack auf den Bock des zweirädrigen Karrens. Auf ein kurzes Zungenschnalzen seines Herrn setzte sich das Zugpferd gemächlich in Bewegung.

Gierig atmete Kitty den Duft der Frühlingsblumen auf den Wiesen. Sie war noch nie zuvor in London gewesen, doch diejenigen, die es schon einmal in die Hauptstadt verschlagen hatte, beschrieben sie als stinkenden, schmutzigen Moloch, dessen Einwohner von den ungesunden Lebensverhältnissen in jungen Jahren dahingerafft wurden. Eine bedrückende Aussicht, die Kitty mit Missbehagen erfüllte.

Vielleicht gelingt es mir, genug Geld zu sparen, damit ich eines Tages nach Stamford zurückkehren kann, dachte sie hoffnungsvoll.

"Was wirst du tun, wenn du in London ankommst?", fragte Jack neugierig.

"Ich werde Thomas aufsuchen", antwortete das Mädchen abwesend. "Er kann mir sicher eine Anstellung besorgen."

"Wie geht es Thomas? Ich hätte erwartet, dass er zur Beerdigung eurer Eltern kommt, aber offensichtlich war er zu beschäftigt."

"Ja, das wird es wohl sein", murmelte Kitty.

"Hat er dir geschrieben, weshalb er nicht kommen konnte?", hakte Jack nach, der nicht bemerkte, dass seiner Begleiterin das Thema unangenehm war.

"Nein", erwiderte sie einsilbig.

"Was? Er hat dir nicht einmal eine Erklärung gegeben, weshalb er die Bestattung eurer Eltern versäumt?", rief Jack empört.

Kitty senkte betreten den Blick. "Er hat überhaupt nicht geschrieben", gab sie zu.

"Das ist nun wirklich ungeheuerlich!"

"Vielleicht hat mein Brief ihn nicht erreicht", versuche Kitty die Nachlässigkeit ihres Bruders zu erklären.

"Möglich", stimmte der Bursche zu. "Dann wird dein Bruder aber sehr überrascht sein, wenn er jetzt erst vom Tod eurer Eltern erfährt!"

"Ja, das wird er."

Kitty verschwieg ihm, dass schon seit zwei Monaten kein Brief mehr von Thomas gekommen war. Da ihr Bruder seit seiner Ankunft in London bis dahin stets regelmäßig an seine Familie geschrieben hatte, beunruhigte Kitty dieses plötzliche Schweigen. Thomas war kein leichtfertiger Mensch, doch die verderblichen Einflüsse der großen Stadt waren legendär. Und so fürchtete das Mädchen, dass ihr naiver Bruder in schlechte Gesellschaft geraten sein könnte.

Vor einer Herberge am Rande von Stamford zügelte Jack das Pferd und half Kitty beim Absteigen. Der Rollwagen nach London stand schon bereit. Einige Warenbündel wurden noch auf den vierrädrigen Wagen verladen und unter der Plane, die sich über die Ladefläche wölbte, verstaut. Der Fuhrmann spannte mit Hilfe eines Stallknechts die Zugpferde an. Sechs Tiere gingen hintereinander, während der Fuhrknecht auf einem Pony nebenherritt und die Pferde mit Zurufen lenkte.

Kitty schenkte Jack noch ein Abschiedslächeln, das diesen erröten ließ, bevor sie neben den anderen Passagieren auf der Sitzbank Platz nahm. Der Rollwagen legte zwar nur zwei Meilen pro Stunde zurück und brauchte vier Tage bis nach London, aber mit acht Schillingen war er um die Hälfte billiger als die Postkutsche, die die Strecke in zwei Tagen bewältigte.

Als der Fuhrmann sein Pony bestieg und die Peitsche schwang, setzten sich die sechs Pferde gehorsam in Bewegung. Kurze Zeit später entzog eine Biegung Kitty den Blick auf die kleine Provinzstadt, in der sie aufgewachsen war. Eine dumpfe Ahnung, dass sie Stamford nie wiedersehen würde, überkam sie und ließ erneut Tränen in ihre Augen steigen.

 

 

 

 
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