Das Jungfrauenspiel

Leseprobe


 

 

Erstes Kapitel

 

November 1583

Der kleine Segler wiegte sich gemächlich im leichten Wellengang des Hafens von Calais. Ein starker Geruch nach Fisch, Tang und Salz lag in der Luft. Das Geschrei der Möwen, die auf der Suche nach Abfällen tief über das Wasser glitten, verband sich mit den rauen Stimmen der Seeleute. Es herrschte rege Betriebsamkeit. Fässer wurden über das steinerne Pflaster gerollt, Kisten und Bündel zu wartenden Booten geschleppt.

Roger Ashton nahm die Hände seiner Gemahlin und drückte sie herzlich.

"Seid Ihr sicher, dass Ihr diese gefährliche Reise auf Euch nehmen wollt, meine Liebe? Noch ist Zeit, Eure Meinung zu ändern."

Marianna Ashtons grüne Augen hoben sich zu dem zweifelnden Gesicht ihres Mannes. Entschieden schüttelte sie den Kopf.

"Bitte versteht doch! Von dem Moment an, als sie mir Nathaniel weggenommen haben, suche ich nach einem Weg, ihn zurückzubekommen. Ich will nicht, dass er eines Tages seine Mutter vergisst. Ich bin Euch ins Exil gefolgt, weil ich glaubte, Ihr wüsstet Rat."

Er senkte die Lider. "Es tut mir Leid. Wenn ich geahnt hätte, dass man Euch Nat fortnehmen und ihn in die Obhut meines Vetters geben würde, hätte ich euch früher zu mir geholt."

"Ich gebe Euch keine Schuld. Aber ich muss einen Versuch unternehmen, Nat aus England herauszubringen. Auch wenn er nicht -"

Ashton unterbrach sie. "Schon gut, Ihr braucht nichts weiter zu sagen. Ihr wisst doch, dass ich Euch längst vergeben habe. Trotzdem habe ich Angst um Euch. Walsinghams Spitzel sind überall. Wenn man Euch erkennen sollte ..."

Beschwichtigend legte Marianna die Hand auf den Arm ihres Gatten.

"Ich habe doch einen Pass auf einen anderen Namen. Niemand rechnet damit, dass ich nach England zurückkehre."

"Es wäre meine Pflicht als Euer Herr und Beschützer, Euch auf dieser Reise zu begleiten."

"Nein! Ihr wisst sehr gut, dass es unvernünftig wäre. Wenn man Euch in England aufgreift, wird man Euch wegen Hochverrats hinrichten. Mir als Frau werden sie dagegen nichts tun. Wünscht mir Glück, mein Gemahl."

"Ich werde hier in Calais auf Eure Rückkehr warten. Möge Gott Euch schützen!"

Nur widerwillig ließ Roger Ashton die Hand seiner Gemahlin los und wandte sich an den Diener, der mit einem Bündel über der Schulter hinter ihr stand.

"Christopher, achte gut auf deine Herrin! Ich vertraue dir ihre Sicherheit an. Enttäusche mich nicht!"

Der große, kräftig gebaute junge Mann neigte leicht den Kopf. "Ja, Sir!"

Christopher war sich der Verantwortung wohl bewusst. Er diente seinem Herrn bereits von Kindheit an und verehrte dessen Gemahlin.

Marianna Ashton wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihrem Gatten ab, winkte ihrer Magd Judith und ließ sich von dem Diener an Bord helfen. Der Segler würde sie und einige andere Passagiere zu dem Postschiff bringen, das in tieferem Gewässer vor Anker lag.

Roger Ashton blieb noch lange auf der Mole stehen und beobachtete, wie das Schiff die Segel setzte, den Anker lichtete und langsam den Hafen verließ. Erst als es nur noch ein heller Fleck am Horizont war, riss er sich von dem Anblick los und suchte eine der Kirchen der kleinen Stadt auf, um für Mariannas sichere Rückkehr zu beten.

Als Ashton das Gotteshaus verließ, begann es bereits zu dunkeln. Vom Meer her wehte ein kalter Wind, der den dicken Wollstoff seines Umhangs durchdrang und ihn trotz der reichlich vorhandenen Fettpolster erzittern ließ. Seine Gedanken wanderten wieder zu seiner Frau und ihrem Vorhaben. Erneut durchlief ihn ein Schauer, für den nicht die Kälte verantwortlich war. Vielleicht hätte er energischer versuchen sollen, sie davon abzuhalten. Aber Marianna hatte von jeher einen Dickkopf besessen, gegen den anzukämpfen ihm oftmals zu mühsam gewesen war. Aus Bequemlichkeit hatte er ihr zu viel durchgehen lassen. Andererseits war sie dank ihrer Entschlossenheit auch ohne ihren Gatten zurechtgekommen, als dieser nach der Rebellion der nordenglischen Grafen ins Exil gegangen war. So jung Marianna damals gewesen war, sie hatte sich in ihrer nicht gerade beneidenswerten Lage als Frau eines Hochverräters behauptet und sich von den Vertretern des Staates, die sie schikaniert hatten, nicht einschüchtern lassen. Ashton hätte es ihr nicht übel genommen, wenn sie ihren Gatten für die verzweifelte Lage, in die er sie gebracht hatte, von ganzem Herzen gehasst hätte. Zu seinem Erstaunen tat sie es nicht, hatte es nie getan. Es mochte keine Liebe zwischen ihnen gegeben haben - das hatte er bei dem erheblichen Altersunterschied auch nicht erwartet - doch sie hatten einander mit Achtung und Verständnis behandelt. Die wenige Zeit, die Roger Ashton während seiner vierzehnjährigen Ehe mit seiner Gemahlin verbracht hatte, war das Beste, was ihm je passiert war. So war es ihm nicht schwer gefallen, über Mariannas wenige Fehltritte hinwegzusehen. Er gab sich selbst die Schuld. Schließlich hatte er sie im Stich gelassen, um sich einer von vornherein zum Scheitern verurteilten Rebellion gegen die Königin von England und ihre Minister anzuschließen. Nun war es Marianna, die sich in ein gefährliches Vorhaben stürzte, und er brachte es nicht übers Herz, sie zurückzuhalten. Eine heimliche Reise nach England erforderte allerdings eine sorgfältige Planung. Die englischen Hafenstädte wimmelten von Spitzeln, denn die mächtigen Männer am Hof Elizabeths lebten in ständiger Angst vor Verschwörungen gegen ihre Königin. Roger Ashton selbst hätte es nicht wagen können, die Insel zu betreten, ohne Verhaftung, Kerker und eine barbarische Hinrichtung zu riskieren. Seine Gattin dagegen würde kaum Verdacht erregen. Mit einem gefälschten Pass ausgestattet, den sie von einem im Exil lebenden Engländer erstanden hatten, konnte sie sich sicher fühlen. Nun blieb Ashton nichts anderes übrig, als zu warten und zu beten.

Tief in Gedanken versunken ging er durch die schlecht beleuchteten Gassen des Küstenstädtchens. Die Geräusche des Hafens hinter ihm wurden vom Wind verweht, der einen Geschmack von Salz auf den Lippen zurückließ. Die Gasse, die zu der Herberge führte, in der er wohnte, stieg ein wenig an. Als Ashton sie erklomm, nahm ihm die leichte Anstrengung bereits den Atem. Ein Gefühl von Enge zog sich um seine Brust und strahlte in seinen linken Arm aus. Er musste anhalten, um Luft zu schöpfen. Das Alter!, dachte er zerknirscht. Dabei hatte er gerade erst sein fünfzigstes Jahr vollendet. Vielleicht war es aber auch seine Schwäche für gutes Essen. Marianna hatte ihn stets wegen seines kräftigen Appetits geneckt. Nun rächte sich die sündige Völlerei. Er musste in Zukunft wohl oder übel kürzer treten!

Ashtons rasselnder Atem übertönte die Schritte der drei Männer, die sich ihm von hinten näherten. Er hörte sie nicht kommen. Plötzlich wurde er an beiden Armen gepackt und gegen eine Hauswand geschleudert. Ashtons Hand tastete nach dem Griff seines Degens. Es gelang ihm noch, die Waffe halb aus der Scheide zu ziehen, als ein Fausthieb in den Magen seine Gegenwehr im Keim erstickte. Röchelnd krümmte er sich zusammen und schnappte nach Luft. Sein Herz raste. Seine Arme wurden auf seinen Rücken gezwungen, ein Seil schnitt in das Fleisch seiner Handgelenke und schnürte sie zusammen. Nun war er völlig wehrlos. Mit schreckgeweiteten Augen nahm er die Gesichter der drei Männer in sich auf, die ihn umstanden. Eines von ihnen gehörte dem Exilanten, der den Pass für Marianna gefälscht hatte.

"Was wollt Ihr von mir?", stieß Ashton hervor, obwohl er die Antwort bereits kannte. Sie waren einem englischen Spion auf den Leim gegangen!

Wortlos starrten die Männer ihren Gefangenen an. "Ich bitte Euch, lasst mich gehen!", flehte Ashton.

Einer der Männer stopfte ihm einen schmutzigen Lappen in den Mund, ein anderer holte einen Leinensack hervor und zog ihn dem vor Angst bebenden Gefangenen über den Kopf, damit er nicht sah, wohin man ihn brachte. Roger Ashton wusste es auch so. Allem Anschein nach war er dazu verdammt, in die Fußstapfen Dr. John Storys zu treten, der im Auftrag William Cecils, Lord Burghley, entführt und in England hingerichtet worden war. Und die ahnungslose Marianna lief in eine Falle!


 
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